Thomas Diener
Viele kleine Tode
Melodramatisches Trauerspiel in elf Bildern
"Meine Gestalten sind zusammengesetzt aus vergangenen und gegenwärtigen
Kulturphasen, aus Bücherseiten und Zeitungsblättern, aus Stücken anderer
Menschen, aus Kleiderfetzen und Lumpen, und ihre Ideen entnehmen sie
wechselweise von einander."
(August Strindberg)
Die Personen
Thomas Reinhardt, als Heranwachsender
Thomas Reinhardt, als Mittzwanziger
Eugen Pachoutinsky
Anne Marie Pachoutinsky
Elisabeth Schneider
Veruschka von Weinbergen (die drei Frauenfiguren eine Darstellerin)
Der Vater
Die Mutter
Der Rektor
Der Gefängnisdirektor
Der Verleger (die drei Männerfiguren ein Darsteller)
Ein Kriegsveteran
Ein Klassenkamerad
Ein Psychiater
Drei männliche Bargäste
Drei Inhaftierte
Ein weiblicher Bargast (stumm)
Ein Boxer (stumm)
Zwei schwarze Hünen (stumm)
Das Stück spielt in München und Umgebung
In den Jahren von 1960
Der Theatervorhang
Auf den geschlossen Vorhang ist das Gemälde "Il Re di Roma addormentato" von
Gian Battista Borghesi projiziert
Darunter steht folgendes geschrieben
DAS IST EINE BURSCHE OHNE KOLLEKTIVE BEDEUTUNG
DAS IST GANZ EINFACH NUR EIN INDIVIDUUM
LOUIS-FERDINAND CÉLINE
Erstes Bild
Der Vater
Der Rektor
Die Mutter
Thomas Reinhardt als Heranwachsender
Büro des Rektors
Grelle Deckenbeleuchtung
Die Rückwand ist scheusslich gelb getüncht
Ein mannshohes spanisches Kruzifix lehnt an der Rückwand
Links auf der Bühne ein mächtiger Schreibtisch aus edlem Holz
Rechts vorne ein einfacher Holzstuhl
Der Rektor sitzt auf der Kante des Schreibtisches
Er wirkt überheblich, zynisch
Vorne in der Mitte auf der Bühne geht der Vater mit auf dem Rücken gefalteten
Händen unruhig auf und ab
Die Mutter sitzt kerzengerade auf dem Holzstuhl
Thomas Reinhardt lehnt mit gesenktem Kopf an der Rückwand links neben
dem Kruzifix
Er hat eine sehr lange Fransenfrisur, in die sehr feste, steif von der Stirn
abstehende Zöpfchen gedreht sind
Er hat die Hände in den Taschen seiner geflickten Hose versteckt
Während des ganzen Stückes hinkt Thomas Reinhardt leicht mit seinem
rechten Bein
Das Erste Bild ist sehr stark geprägt von einer gehetzten, nervösen und
beinahe hysterischen Stimmung
Rechts und links vom Zuschauer aus gesehen
VATER ist sehr erregt und wirkt verstört
Es geht nicht mehr
es geht ganz und gar nicht mehr so weiter - -
REKTOR auffallend betont sprechend
Wenn ich Sie richtig verstehe - -
VATER
Der Teufel muss seine Hand im Spiel haben
eine andere Erklärung finde ich nicht - -
REKTOR
Mit einem Schlag bricht das ganze Leben auseinander - -
VATER
Man steckt die Köpfe hinter meinem Rücken zusammen - -
REKTOR
Man spuckt Ihnen von vorne ins Gesicht - -
VATER
Man lässt mich links liegen - -
REKTOR
Man schneidet Sie als wären Sie ein Mensch mit einem Lepraerreger - -
VATER
Mein Ansehen in der Gesellschaft ist nur mehr ein Schnee von gestern - -
REKTOR
Die Gesellschaft im allgemeinen
ist heutzutage nur mehr ein Schnee von Gestern
ein Schatten ihrer selbst
Stille
VATER fast weinerlich
Es gab Tage in meinem Leben
an denen ich kaum atmen konnte vor Glück
Diese Tage erstickten einen
nahmen einem buchstäblich das Leben
REKTOR
Und der kommende Tag war noch schöner als der vergangene
Ich sage das nicht aus reiner Höflichkeit
es ist meine tiefste Überzeugung
VATER
Glück und Glas
wie leicht bricht das
REKTOR
Sie mit Ihrer gehetzten Seele können einem fast leid tun
VATER
Jeden Sonntag unternahmen wir Fahrten an die Isar
Wir erblickten am Wegesrand Fliederbüsche oder blühende Kastanien
Man konnte nicht anders
als an freundliche Fügungen glauben
REKTOR
In Ihrem Kopf scheint es immerfort zu hämmern
VATER holt aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor
Ich sollte mir die Stirn trocknen
REKTOR
Sie sollten in Ihrem Leben alles neu überprüfen
Die alten Gültigkeiten haben vielleicht jeglichen Wert verloren
VATER trocknet sich die Stirn mit dem Taschentuch
Die ruhigen Tage eines geordneten Lebens scheinen endgültig vorbei zu sein
Das Warten im Dunkeln hat begonnen
Stille
VATER sehr stockend
Meine Zunge löst sich nicht mehr
verehrter Herr Rektor
REKTOR
Etwas scheint wie eine Gespenst auf Ihrer Seele zu liegen
Er erhebt sich vom Schreibtisch und geht auf den Vater zu - sehr zutraulich
Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf
Herr Richter Reinhardt
erleichtern Sie Ihr Gewissen
versuchen Sie reinen Tisch zu machen
spucken Sie einfach alles aus
ohne Umschweife nur zu
VATER spuckt mehrmals auf den Boden - sehr gequält
MEIN SOHN THOMAS IST MISSRATEN
ER IST GEWISSERMASSEN EIN TIEFSCHWARZES SCHAF
ER IST EINE SCHANDE FÜR DIE GESAMTE FAMILIE
Pause - leise und eindringlich
Er ist jenseits
immer jenseits von etwas
jenseits einer inneren moralischen Stimme
einer menschlichen Bewegung
einer freundlichen Geste
jenseits eines Gehorsams Mitleids Kniefalls
jenseits eines zärtlichen Klaviertons
MUTTER blickt immer starr ins Publikum - verhalten
Unser Junge ist seit seiner Geburt mindestens einmal im Jahr
dem Tod sehr nahe gewesen
Von jedem dieser halben Tode
ist etwas in ihm nicht wieder geheilt
VATER
An einem Freitagnachmittag vor einem halben Jahr
war der Himmel über München wieder einmal blau und rosa
und unser tolpatschiger Satansbraten hatte nichts Besseres in dem Sinn
als auf sein funkelnagelneues Fahrrad zu klettern
Er sauste damit um eine Ecke
und steuerte direkt auf einen Fleischerwagen zu
Das schwere Automobil rollte mit zwei Rädern über seinen Leib
er bekam die Stosstange an den Kopf und verlor das Bewusstsein
Die Folgen des Unfalls waren Gesichtswunden
Quetschungen und innere Verletzungen
ein gebrochener Fuss
eine massive Gehirnerschütterung
MUTTER
Thomas ist wie ein Wesen von einem anderen Stern
VATER ironisch
Freilich ohne jeglichen Verstand und mit einem allzu abenteuerlichen Herzen
MUTTER
Seine Phantasie spielt dem armen Buben grausame Streiche
VATER
Das Kind hat sich mit dem Leibhaftigen verbunden
eine Schleppe aus Katastrophen und Verderben zieht es hinter sich her
Der Rektor geht langsam auf Thomas zu
Er klopft mit dem Fingerknöchel seiner rechten Hand an die Stirn von Thomas
Thomas rührt sich nicht
REKTOR
Vielleicht ist er von Geburt an ein Schwachköpfchen?
MUTTER
Tag und Nacht hat er einen ganz schwermütigen Ausdruck in seinem Gesicht
in seinem hübschen Puppengesicht
das jedes Mädchen in der Stadt nur allzu gerne berühren würde
VATER
Aber wenn er sich unbeobachtet glaubt
zeigt er sein wahres Gesicht
das Gesicht eines Galgenvogels
REKTOR
Die jungen Leute von heute verrenken sich im Kopf
sie stellen sich auf die Hinterbeine und kläffen
VATER
Sie laufen Sturm gegen alles und jeden
REKTOR
Mit ihrer gewissenlosen Selbstsucht vernichten sie ihre Väter und Mütter
sie sind eine aufsässige Bande sittenloser Geistesverwirrter
VATER
Ohne es zu ahnen
zieht man in seinem eigenen Haus
einen lebensgefährlichen Anarchisten gross
Heranwachsende sind für Eltern ein furchtbares Grausen
ein unvorstellbares Leid
REKTOR nach einer Pause
Welche Abendlektüre wählen Sie für Ihre Familie aus
Herr Richter Reinhardt?
VATER
Zumeist lese ich in den Abendstunden aus Brehms Tierleben vor
MUTTER
Das erbauliche Vogelparadies in der Theiss-Ebene
macht der Familie dabei immer am meisten Freude
VATER
Aber auch Bücher von Rabe Schiller Fontane Stifter kommen natürlich nicht zu kurz
REKTOR
Vortrefflicher Lesestoff
MUTTER
Und an den Samstagabenden erleben wir erhabene Stunden
in den Theatern der Stadt München
Einzig der fiebrigen Hysterie von Wagners Musik
schenken wir nicht unsere Beachtung
REKTOR nach einer Pause - leise zum Vater
Haben Sie vielleicht irgendwann Ihre Contenace verloren
und gegen Ihren Sohn die flache Hand erhoben?
VATER entrüstet, aber leise
Verehrter Herr Rektor
wie Sie wissen bin ich Oberster Richter am Oberlandesgericht
ich bin nicht der Henker
der sich seine Hände schmutzig zu machen braucht
Der Rektor klopft dem Vater anerkennend auf die Schulter
Er geht dann hinter den Schreibtisch
REKTOR
Ich empfehle Eltern prinzipiell nicht mit der Hand zu schlagen
das ist nichts anderes als das Ausleben einer elterlichen Frustration
Er holt aus einem Schreibtischfach einen langen, glattgeschnittenen Ast hervor
Um effektiv die Erziehung zu unterstützen
müssen Schläge nämlich gezielt Schmerzen verursachen
Der grösste Schmerz
wird an der Oberfläche der nackten Haut gespürt
wo sich die Nerven befinden
Im folgenden geht der Rektor mit der Rute auf und ab
Die Mutter beginnt leise zu schluchzen
Der Vater wirkt immer stärker verzweifelt
REKTOR
Wenn es Zeit wird
die Rute anzuwenden
sollte man tief einatmen
sich entspannen
und man sollte nicht vergessen zu beten
HERR LASS DAS EINE WERTVOLLE LEKTION WERDEN
kurze Pause
Reissen Sie Ihr Kind nicht herum
erheben Sie Ihre Stimme nicht
das Kind muss die Rute an Ihrem ganzen ruhigen
überlegten und beherrschen Geist kommen sehen
kurze Pause
Wenn Sie sich auf das Kind setzen müssen
um es zu versohlen
dann zögern Sie nicht
Und halten Sie es solange in dieser Stelllung
bis es aufgegeben hat
kurze Pause
Aus meiner Erfahrung sind fünf bis zehn Schläge meistens ausreichend
kräftige Schläge sehr kräftige Schläge
Manchmal bei älteren Kindern
wenn die Schläge nicht kräftig genug sind
ist das Kind noch widerspenstig
Wenn das der Fall ist
versohlen Sie einfach weiter
hören Sie mit der Disziplin nie auf
bevor das Kind sich e r g e b e n hat
Er reicht dem Vater die Rute
Ich sehe keine andere Lösung
Die Mutter fällt ohnmächtig vom Stuhl
Der Vater wirft vor Ekel die Rute zu Boden
Er schlägt die Hände vors Gesicht
REKTOR nach einer Pause - sehr kühl
Ihr Verhalten macht einem Oberlandesgerichtsrat nun wahrlich keine Ehre
kurze Pause
Ich muss Sie dringend dazu auffordern
Ihren Sohn noch heute von meinem Gymnasium abzumelden
Für eine weitere Bildung halte ich die Volksschule für das höchst Erreichbare
Vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder
Er stürzt auf Thomas zu und klopft ihm wie zuvor an die Stirn
Eindeutig ein Schwachköpfchen - -
VATER aufgelöst
Ich flehe Sie an
verehrter Herr Rektor
gibt es denn keine anderen Möglichkeiten?
Meine Not wächst ins Unermessliche
REKTOR
Sie stehlen mir meine kostbare Zeit Herr Richter Reinhardt
für mich ist hiermit die Unterhaltung beendet
THOMAS lehnt weiter an der Wand - leise, aber sehr eindringlich
Wie sehr ich Euch alle miteinander hasse
Nichts wisst Ihr über mich
gar nichts
Und glaubt Euch doch so gescheit
kurze Pause
Wichtig allein ist Euch
einen Sündebock für Euer eigenes Versagen zu haben
Ihr seit alle hinterhältig niederträchtig verlogen und gemein
ich hasse Euch
ich brauche Euch nicht
Das spanische Kruzifix fällt laut zu Boden
Dunkelheit
Zweites Bild
Ein Psychiater
Der Vater
Die Mutter
Thomas Reinhardt als Heranwachsender
Das Wohnzimmer in der Wohnung von Reinhardts
Eine altmodische Stehlampe mit Lampenschirm ist die einzige Lichtquelle
In der Mitte der weissen Rückwand befindet sich eine offen stehende Tür
Links neben der Tür hängt an der Wand ein grosser leerer Bilderrahmen
Vor dem Bilderrahmen liegt auf dem Boden ein noch dampfender, blutiger
Hirschkadaver mit auffallend grossem Geweih
Rechts von der Tür steht an der Wand ein Holzstuhl
Schräg links auf der Bühne steht ein hoher Stehspiegel
Rechts vorne ein schwarzes Klavier
Thomas Reinhardt steht nackt vor dem Stehspiegel
Er betrachtet und berührt seinen Körper
Die Mutter sitzt strickend auf dem Stuhl rechts neben der Tür
Vorne in der Mitte der Bühne gehen der Psychiater und der Vater auf und ab
PSYCHIATER zum Vater
Die seelische Überreizung Ihres Sohnes hat ihre Ursache
in seiner vollkommen sexuellen Unaufgeklärtheit
Indem er plötzlich den aus der Pubertät resultierenden Verschiebungen seiner Physis
als etwas Rätselhaftem gegenübersteht
zwingen eben diese ständig vermehrten Verschiebungen seine Psyche
sich unausgesetzt damit zu beschäftigen
Diese Überreizung ist meiner Meinung nach bereits derart stark geworden
dass sie in ihren Äusserungen das Pathologische streift
wenn nicht gar schon sehr hierin übergreift
Der Vater schüttelt ungläubig den Kopf
Die Mutter strickt unbeeindruckt weiter
PSYCHIATER beobachtet Thomas, der weiter vor dem Stehspiegel steht
Zudem macht mir Ihr Sohn den Eindruck eines schwer hysterischen Menschen
der in seiner Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert scheint
Der Vater reicht dem Psychiater wortlos zum Dank seine Hand
Der Psychiater verlässt durch die Tür die Bühne
Der Vater setzt sich ans Klavier
Er spielt leise einen traurigen langsamen Walzer von Frédéric Chopin
VATER zu sich
Jeder möchte gut schön reich stark sein als Kind
Nur unser blumenzarter Phantast hält nichts von diesen Tugenden
nach einer Pause zu seiner Frau - verächtlich
Wie Dein närrischer Bruder wird auch Dein Sohn in einem Irrenhaus enden
MUTTER
Mein armer Bruder leidet an fürchterlichem Kopfweh
an unheilbarer Migräne - -
VATER
KOPFWEH MIGRÄNE
DAS ICH NICHT LACHE
EIN GÄNZLICH VERRÜCKTER IST DEIN BRUDERHERZ
kurze Pause
Sein abstossend hässliches Gesicht
mit den fett verwachsenen weichen Zügen
und den stechenden boshaften Augen
ist jedesmal ein unvergleichlich widerwärtiges Schauspiel
MUTTER
Du bist ungerecht und grausam - -
VATER
Seine Hände muss er in Schlingen tragen
angebunden ist er am Bett
wegen der Gefahr des Selbstmords
kurze Pause
Paralyse Paranoia Dementia preacox
IDIOTEN IDIOTEN
kurze Pause
Idioten sind das Überflüssigste
das Selbstverliebteste
das Entsetzlichste
was es auf Erden gibt
Die Mutter hat zu weinen begonnen
Thomas läuft durch die Tür aus dem Zimmer
Der Vater spielt wieder ruhig den Walzer
MUTTER unter Tränen
All die Jahre hast Du nur versucht
mit guten Ermahnungen auf den Buben einzuwirken
Ich habe immer das Gefühl gehabt
dass Du bei Streitigkeiten beiseite tratst
als wolltest Du dich nicht entscheiden
Du bist seltsam gewesen
Thomas taucht in der Tür auf
Er trägt einen roten Bademantel und eine Spiegelbrille
Er raucht eine Zigarette
THOMAS
Noch heute Nacht
wenn die kleinen runden Vögel zwischen den Ästen heruntergefallen sind
werde ich dem Elend hier auf ewig Adieu sagen
Er tritt in das Zimmer ein
VATER haut wütend in die Klaviertasten
Jetzt packt ihn wieder das Fernweh
THOMAS
Ich lasse das zurück was Euch am wertvollsten ist
den noch dampfenden blutverschmierten Hirschkadaver
Die Mutter rutscht vom Stuhl auf die Knie
Sie faltet die Hände zum stillen Gebet
Der Vater wirkt fast erheitert
THOMAS
Als Schiffsjunge werde ich wirklich Schiffbruch erleiden
und ich werde die Landung auf einer einsamen Insel erleben
Es wird ein Ort sein für die Ewigkeit
die Geburt des Paradieses für Helden Narren und Sünder
ein Ort grosser Geheimnisse
wo der rote Mond
voll und glänzend
den schwarzen Himmel beherrscht
MUTTER
Er ist in einem fürchterlichen Zustand - -
VATER
Er ist endgültig von allen guten Geistern verlassen
Thomas beginnt mit sich selbst einen stummen Walzer zu tanzen
MUTTER
Tränen stürzen ihm aus den Augen
Man müsste etwas Liebes tun
oder ihm etwas Sanftes ins Ohr sagen
VATER
Es steht fest
der abnorme Junge muss so schnell wie möglich aus dem Haus
bevor tatsächlich noch ein Unglück geschieht
Die Mutter kriecht auf allen Vieren zu dem weiter tanzenden Thomas
Sie umklammert seine Beine
Thomas stürzt zu Boden
MUTTER verzweifelt, fast hysterisch
Mein einziges Kind
bleib bei Verstand
ich bin es doch nur
deine dich ewig liebende Mutter
Sie küsst die Wangen von Thomas
Mein Schlaf gestern Nacht ist voll seltsamer Unruhe gewesen
schemenhafte Geschöpfe kamen und gingen
Als ich im Morgendämmern aufwachte
griff ich mir an den Kopf
wie wenn ich eine lange bange Fahrt gemacht hätte durch Gegenden
aus denen noch kein Mensch gesund zurückkehrte
Thomas stösst die weinende Mutter von sich
Er erhebt sich langsam
THOMAS
So wird es im Jenseits sein
In der Heide die Fähren und jener sanfte Sand
ein Himmel wie gemalt
das Wolkenwandern
weiss
selig
reisst sich von dieser Erde auf
VATER mit blankem Entsetzen - zu sich
Jetzt hilft nur noch ein Sanatorium
danach vielleicht das strengste Internat im Land
Er stürzt auf Thomas zu, packt ihn an den Schultern - ausser sich
Im rechten Flügel von Schloss Nymphenburg
gibt es eine Ausstellung Mensch und Natur
da hängen an den Wänden Bilder von Eisbären und Pinguinen
WARUM ZIEHT ES DICH DA NICHT HIN?
Er reisst Thomas zu Boden
Er verlässt wutentbrannt und hilflos wirkend durch die Tür das Zimmer
Die Mutter bekommt einen hysterischen Lachanfall
Thomas erhebt sich vom Boden und geht ruhig zum Stehspiegel
Er streicht sein Haar glatt und zündet sich eine neue Zigarette an
MUTTER weiter unter hysterischem Lachen
So stirbt der Sohn dem Vater
und der Vater dem Sohn
Keiner von beiden bedauert aufrichtig den Verlust
THOMAS betrachtet sich weiter im Spiegel - zu sich, aber eindringlich
Der Grosse Fuchs lässt seine Flügel am Boden hängen
Nirgends ein Atlasschimmel soweit das Auge reicht
Ja Mutti
jetzt ist alles zu spät
kurze Pause
THE BIG SUR
Dunkelheit
Drittes Bild
Ein Klassenkamerad
Thomas als Heranwachsender
Der Vater
Die Mutter
Thomas als Mittzwanziger
Eine Waldlichtung, eingehüllt von leichten Nebelschwaden
An der grauen Rückwand hängt eine grossformatige, kitschig gemalte
Gebirgslandschaft
Schräg links vorne eine Reihe von drei verdorrten Gebirgsbäumen
Rechts vorne ein Marterl mit folgender Aufschrift
ICH LIEBE EUCH ALLE - BIS AUF WENIGE
Thomas Reinhardt als Heranwachsender und der Klassenkamerad sitzen
angelehnt an den Bäumen auf dem Boden
Auf den Kopf tragen sie Schülermützen
Vor Thomas auf dem Boden liegt eine Ledertasche und ein von einem
Ledergurt zusammengehaltenes Bündel Bücher, das verschiedene Schriften
Nietzsches enthält
Thomas gibt Zigaretten aus
Ruhige Stimmung
KLASSENKAMERAD
Wir hätten auch ausbüchsen können
THOMAS
Red' keinen Blödsinn
Man hätte uns nachträglich als Feiglinge bezeichnet
KLASSENKAMERAD
Wir sind keine Feiglinge
der Feigling ist etwas anderes
das ist einer von dieser Welt
Pause
In der Nacht hat vor meinem Schlafzimmerfenster
die Liebessaison der Katzen begonnen
Ich habe kein Auge zugemacht
jetzt plagen mich ganz scheussliche Kopfschmerzen
THOMAS
Wenn Du Geburtstag hast
regnet es garantiert
KLASSENKAMERAD
Bad vibrations
Stille
THOMAS
Wir sind zwei trübe Unglücksraben
die die sinnlosen und idiotischen Internatsjahre
mit der Apathie eines abgetriebenen Packesels
über sich ergehen liessen
kurze Pause
Nichts ist so unerträglich für den Menschen
wie Langeweile
weil der Mensch dann sein Nichts fühlt
seine Ungesichertheit
seine Abhängigkeit
seine Leere
kurze Pause
Mit der Langeweile
steigt aus dem Grund der Menschenseele
das gelangweilte Arschloch auf
die Schwärze
die Traurigkeit
die Verzweiflung
KLASSENKAMERAD
Es liegt in unserer Macht
uns zu töten
aber es liegt nicht in unserer Macht
unsere Ü b e r f l ü s s i g k e i t zu vernichten
Dieses Wissen ist niederschmetternd
Stille
THOMAS
Mein Vater und meine Mutter
glauben nicht an eine Weiterexistenz nach dem Tod
Was mit dem toten Leib geschieht ist ihnen gleich
kurze Pause
Mein Begräbnis wird billigste Sorte sein
kein Priester niemand verständigt
nur ein paar Verwandte werden Blumen und Diesteln ins Grab werfen
kurze Pause
Am Rangierbahnhof hat man zuvor meinen Sarg
in einen Wagon des Güterzugs Berchtesgaden-München gehoben
Fracht nicht Eilgut
niemand ist mitgefahren
KLASSENKAMERAD
Während der ersten Monate des Zweiten Weltkriegs
sollen sich erwachsene Deutsche vor den Zug geworfen haben
weil sie nicht an die Front durften
THOMAS
Eine dümmere Bourgoisie als die deutsche ist nicht denkbar
Sie hat zwei Kriege geführt
und nichts dabei für sich gewonnen
KLASSENKAMERAD nach einer Pause
Glaubst Du an Gott
Thomas?
THOMAS
Alle guten Menschen glauben an einen Gott
wie verschieden sie ihn auch nennen
Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin stehen beide gleichzeitig auf
Thomas holt aus seiner Jackentasche zwei rote Schleifen, die sich die
beiden Jungen gegenseitig auf die linke Seite ihrer Jacken befestigen
Dann holt Thomas aus seiner Ledertasche zwei Pistolen
Eine davon gibt er seinem Klassenkameraden
Die Pistolen in der Hand, stellen sich die beiden Jungen in der Mitte der
Waldlichtung Rücken an Rücken
Sie gehen jeder etwa zehn Schritte in entgegengesetzte Richtungen
Dann drehen sie sich um
Thomas und der Klassenkamerad stehen sich nun von Angesicht zu
Angesicht gegenüber
Sie zielen mit den Pistolen auf den Gegenüber
THOMAS
Wir werden zugleich schiessen
so ist es ausgemacht
Hat keiner getroffen
wird es einen zweiten
einen dritten Schusswechsel geben
bis alles zu Ende ist
kurze Pause
LOS
Mehrere Schüsse fallen gleichzeitig
Das Echo der Berge verstärkt den Schusslärm
Der Klassenkamerad stürzt getroffen zu Boden
Thomas ist unverletzt
Er lässt seine Pistole zu Boden fallen und eilt zu dem Klassenkameraden
Der Klassenkamerad hält die Hände vor seiner blutenden Brust
KLASSENKAMERAD hat starke Schmerzen - gepresst
Schiess noch einmal Thomas
Wir sind keine Feiglinge
der Feigling ist etwas anderes
das ist e i n e r von dieser Welt
Thomas nimmt die Pistole des Klassenkameraden
Er schiesst ihm in den Kopf
Dann richtet er die Waffe auf sich selbst und schiesst sich zweimal rasch
hintereinander in die eigene Brust
Er stürzt zu Boden
Dunkelheit
Ein Scheinwerferlicht erfasst links vorne die Mutter
Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und sichtlich gealtert
Sie schiebt einen Rollstuhl in die Mitte der Bühne
In dem Rollstuhl sitzt der Vater
Der Scheinwerfer folgt den beiden
Auf der Bühne weiterhin Dunkelheit
VATER direkt zum Publikum - neutral
Thomas hat zwei Schüsse auf sich selbst abgefeuert
Ein Schuss ist in die Lunge gedrungen
der andere hat das Herz gestreift
Viele Stunden hing sein Leben an einem seidenen Faden
Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre
hätte er tot sein müssen
sagten die Ärzte
MUTTER auch direkt zum Publikum
Die Hintergründe des Zwischenfalls sind weiterhin unbekannt
Vielleicht wollte Thomas nur ein Abenteuer erleben
aufbrechen in ein anderes Land
Monotone Wolken zogen durch seinen Kopf
er hatte sich im Internat schrecklich gelangweilt
er hatte ein Kribbeln in den Beinen
VATER
Gestern abend erhielten wir ein Telegramm
der Psychiatrischen Universitätsklink Frankfurt am Main
Darin stand zu lesen
dass Thomas heute im Lauf des Tages
nach sieben Jahren Inhaftierung
aus ebendieser Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke entlassen wird
Es soll der Versuch sein
Thomas dem sozialen Leben wiederzugeben
und vielleicht doch noch zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu machen
kurze Pause
Ich habe das Telegramm in den Papierkorb geworfen
Die Mutter schiebt den Rollstuhl nach rechts von der Bühne
Der Scheinwerfer folgt ihr
Thomas Reinhardt als Mittzwanziger betritt rechts vorne die Bühne
Er trägt einen schwarzen Anzug mit Krawatte und hat einen kleinen
Koffer in der Hand
Schweigsam begegnen sich die Mutter, der Vater und Thomas
Die Mutter und der Vater ab
Thomas geht in die Mitte der Bühne
Der Scheinwerfer folgt ihm
THOMAS direkt zum Publikum - optimistisch
Der Herbst kommt durch die Luft
bleibt etwas in den Bäumen hängen
ENDLICH ZUGFAHRT NACH MÜNCHEN
Am Fenster fliegen Baumgruppen in der Herbstsonne vorbei
dunkle zusammenhängende Schatten hingetuscht
darüber und weitergreifend hellere Schatten wie lasiert
Das Ganze ist unregelmässig gefleckt
wie man einen Pinsel auf einem Papier ausdrückt
Er zündet sich eine Zigarette an
LEBEN LEBEN
nichts anderes mehr wollen als schöne Erlebnisse
So eingestellt
erfindet man ganz sicherlich einen Roman
kurze Pause
Aber zuvor muss ich mich verlieben
Wenn es gar nicht anders geht
in mich
Thomas tritt aus dem Scheinwerferlicht
Er verlässt nach links schnell gehend im Dunkeln die Bühne
Von oben herab senkt sich in das Scheinwerferlicht eine alte schwarze
Schreibmaschine mit weisser Tastatur
Musik erklingt
Mozart, Arie des Cherubino - Voi che sapete (Le Nozze di Figaro)
Musik aus
Scheinwerferlicht aus
Dunkelheit
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"VIELE KLEINE TODE (AB BILD 4)"
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RECHTS AM RAND