Viele kleine Tode (Bild 1 - 3 / Work In Progress)


Thomas Diener
Viele kleine Tode
Melodramatisches Trauerspiel in elf Bildern


"Meine Gestalten sind zusammengesetzt aus vergangenen und gegenwärtigen
Kulturphasen, aus Bücherseiten und Zeitungsblättern, aus Stücken anderer
Menschen, aus Kleiderfetzen und Lumpen, und ihre Ideen entnehmen sie
wechselweise von einander."

(August Strindberg)




Die Personen

Thomas Reinhardt, als Heranwachsender
Thomas Reinhardt, als Mittzwanziger
Eugen Pachoutinsky
Anne Marie Pachoutinsky
Elisabeth Schneider
Veruschka von Weinbergen (die drei Frauenfiguren eine Darstellerin)
Der Vater
Die Mutter
Der Rektor
Der Gefängnisdirektor
Der Verleger (die drei Männerfiguren ein Darsteller)
Ein Kriegsveteran
Ein Klassenkamerad
Ein Psychiater
Drei männliche Bargäste
Drei Inhaftierte
Ein weiblicher Bargast (stumm)
Ein Boxer (stumm)
Zwei schwarze Hünen (stumm)

Das Stück spielt in München und Umgebung
In den Jahren von 1960


Der Theatervorhang

Auf den geschlossen Vorhang ist das Gemälde "Il Re di Roma addormentato" von
Gian Battista Borghesi projiziert


Darunter steht folgendes geschrieben
DAS IST EINE BURSCHE OHNE KOLLEKTIVE BEDEUTUNG
DAS IST GANZ EINFACH NUR EIN INDIVIDUUM
LOUIS-FERDINAND CÉLINE


Erstes Bild

    Der Vater
    Der Rektor
    Die Mutter
    Thomas Reinhardt als Heranwachsender

    Büro des Rektors
    Grelle Deckenbeleuchtung
    Die Rückwand ist scheusslich gelb getüncht
    Ein mannshohes spanisches Kruzifix lehnt an der Rückwand
    Links auf der Bühne ein mächtiger Schreibtisch aus edlem Holz
    Rechts vorne ein einfacher Holzstuhl

    Der Rektor sitzt auf der Kante des Schreibtisches
    Er wirkt überheblich, zynisch
    Vorne in der Mitte auf der Bühne geht der Vater mit auf dem Rücken gefalteten
    Händen unruhig auf und ab
    Die Mutter sitzt kerzengerade auf dem Holzstuhl
    Thomas Reinhardt lehnt mit gesenktem Kopf an der Rückwand links neben
    dem Kruzifix
    Er hat eine sehr lange Fransenfrisur, in die sehr feste, steif von der Stirn
    abstehende Zöpfchen gedreht sind
    Er hat die Hände in den Taschen seiner geflickten Hose versteckt
    Während des ganzen Stückes hinkt Thomas Reinhardt leicht mit seinem
    rechten Bein
    Das Erste Bild ist sehr stark geprägt von einer gehetzten, nervösen und
    beinahe hysterischen Stimmung

    Rechts und links vom Zuschauer aus gesehen

VATER ist sehr erregt und wirkt verstört
    Es geht nicht mehr
    es geht ganz und gar nicht mehr so weiter - -

REKTOR auffallend betont sprechend
    Wenn ich Sie richtig verstehe - -

VATER
    Der Teufel muss seine Hand im Spiel haben
    eine andere Erklärung finde ich nicht - -

REKTOR
    Mit einem Schlag bricht das ganze Leben auseinander - -

VATER
     Man steckt die Köpfe hinter meinem Rücken zusammen - -

REKTOR
     Man spuckt Ihnen von vorne ins Gesicht - -

VATER
    Man lässt mich links liegen - -

REKTOR
    Man schneidet Sie als wären Sie ein Mensch mit einem Lepraerreger - -

VATER
    Mein Ansehen in der Gesellschaft ist nur mehr ein Schnee von gestern - -

REKTOR
    Die Gesellschaft im allgemeinen
    ist heutzutage nur mehr ein Schnee von Gestern
    ein Schatten ihrer selbst   

    Stille

VATER fast weinerlich
    Es gab Tage in meinem Leben
    an denen ich kaum atmen konnte vor Glück
    Diese Tage erstickten einen
    nahmen einem buchstäblich das Leben

REKTOR
    Und der kommende Tag war noch schöner als der vergangene
    Ich sage das nicht aus reiner Höflichkeit
    es ist meine tiefste Überzeugung

VATER
    Glück und Glas
    wie leicht bricht das

REKTOR
     Sie mit Ihrer gehetzten Seele können einem fast leid tun

VATER
    Jeden Sonntag unternahmen wir Fahrten an die Isar
    Wir erblickten am Wegesrand Fliederbüsche oder blühende Kastanien
    Man konnte nicht anders
    als an freundliche Fügungen glauben

REKTOR
    In Ihrem Kopf scheint es immerfort zu hämmern

VATER holt aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor
    Ich sollte mir die Stirn trocknen

REKTOR
    Sie sollten in Ihrem Leben alles neu überprüfen
    Die alten Gültigkeiten haben vielleicht jeglichen Wert verloren

VATER trocknet sich die Stirn mit dem Taschentuch
    Die ruhigen Tage eines geordneten Lebens scheinen endgültig vorbei zu sein
    Das Warten im Dunkeln hat begonnen

    Stille
   
VATER sehr stockend
    Meine Zunge löst sich nicht mehr
    verehrter Herr Rektor

REKTOR
    Etwas scheint wie eine Gespenst auf Ihrer Seele zu liegen
    Er erhebt sich vom Schreibtisch und geht auf den Vater zu - sehr zutraulich
    Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf
    Herr Richter Reinhardt
    erleichtern Sie Ihr Gewissen
    versuchen Sie reinen Tisch zu machen
    spucken Sie einfach alles aus
    ohne Umschweife nur zu

VATER spuckt mehrmals auf den Boden - sehr gequält
    MEIN SOHN THOMAS IST MISSRATEN
    ER IST GEWISSERMASSEN EIN TIEFSCHWARZES SCHAF
    ER IST EINE SCHANDE FÜR DIE GESAMTE FAMILIE
    Pause - leise und eindringlich
    Er ist jenseits
    immer jenseits von etwas
    jenseits einer inneren moralischen Stimme
    einer menschlichen Bewegung
    einer freundlichen Geste
    jenseits eines Gehorsams Mitleids Kniefalls
    jenseits eines zärtlichen Klaviertons
   
MUTTER blickt immer starr ins Publikum - verhalten
    Unser Junge ist seit seiner Geburt mindestens einmal im Jahr
    dem Tod sehr nahe gewesen
    Von jedem dieser halben Tode
    ist etwas in ihm nicht wieder geheilt

VATER
    An einem Freitagnachmittag vor einem halben Jahr
    war der Himmel über München wieder einmal blau und rosa
    und unser tolpatschiger Satansbraten hatte nichts Besseres in dem Sinn
    als auf sein funkelnagelneues Fahrrad zu klettern
    Er sauste damit um eine Ecke
    und steuerte direkt auf einen Fleischerwagen zu
    Das schwere Automobil rollte mit zwei Rädern über seinen Leib
    er bekam die Stosstange an den Kopf und verlor das Bewusstsein
    Die Folgen des Unfalls waren Gesichtswunden
    Quetschungen und innere Verletzungen
    ein gebrochener Fuss
    eine massive Gehirnerschütterung

MUTTER
    Thomas ist wie ein Wesen von einem anderen Stern

VATER ironisch
    Freilich ohne jeglichen Verstand und mit einem allzu abenteuerlichen Herzen

MUTTER
    Seine Phantasie spielt dem armen Buben grausame Streiche

VATER
    Das Kind hat sich mit dem Leibhaftigen verbunden
    eine Schleppe aus Katastrophen und Verderben zieht es hinter sich her

    Der Rektor geht langsam auf Thomas zu
    Er klopft mit dem Fingerknöchel seiner rechten Hand an die Stirn von Thomas
    Thomas rührt sich nicht

REKTOR
    Vielleicht ist er von Geburt an ein Schwachköpfchen?

MUTTER
    Tag und Nacht hat er einen ganz schwermütigen Ausdruck in seinem Gesicht
    in seinem hübschen Puppengesicht
    das jedes Mädchen in der Stadt nur allzu gerne berühren würde

VATER
    Aber wenn er sich unbeobachtet glaubt
    zeigt er sein wahres Gesicht
    das Gesicht eines Galgenvogels

REKTOR
    Die jungen Leute von heute verrenken sich im Kopf
    sie stellen sich auf die Hinterbeine und kläffen

VATER
    Sie laufen Sturm gegen alles und jeden

REKTOR
    Mit ihrer gewissenlosen Selbstsucht vernichten sie ihre Väter und Mütter
    sie sind eine aufsässige Bande sittenloser Geistesverwirrter

VATER
    Ohne es zu ahnen
    zieht man in seinem eigenen Haus
    einen lebensgefährlichen Anarchisten gross
    Heranwachsende sind für Eltern ein furchtbares Grausen
    ein unvorstellbares Leid

REKTOR nach einer Pause
    Welche Abendlektüre wählen Sie für Ihre Familie aus
    Herr Richter Reinhardt?

VATER
    Zumeist lese ich in den Abendstunden aus Brehms Tierleben vor

MUTTER
    Das erbauliche Vogelparadies in der Theiss-Ebene
    macht der Familie dabei immer am meisten Freude

VATER
    Aber auch Bücher von Rabe Schiller Fontane Stifter kommen natürlich nicht zu kurz

REKTOR
    Vortrefflicher Lesestoff

MUTTER
     Und an den Samstagabenden erleben wir erhabene Stunden
     in den Theatern der Stadt München
     Einzig der fiebrigen Hysterie von Wagners Musik
     schenken wir nicht unsere Beachtung

REKTOR nach einer Pause - leise zum Vater
     Haben Sie vielleicht irgendwann Ihre Contenace verloren
     und gegen Ihren Sohn die flache Hand erhoben?

VATER entrüstet, aber leise
    Verehrter Herr Rektor
    wie Sie wissen bin ich Oberster Richter am Oberlandesgericht
    ich bin nicht der Henker
    der sich seine Hände schmutzig zu machen braucht

    Der Rektor klopft dem Vater anerkennend auf die Schulter
    Er geht dann hinter den Schreibtisch

REKTOR
     Ich empfehle Eltern prinzipiell nicht mit der Hand zu schlagen
     das ist nichts anderes als das Ausleben einer elterlichen Frustration
     Er holt aus einem Schreibtischfach einen langen, glattgeschnittenen Ast hervor
     Um effektiv die Erziehung zu unterstützen
     müssen Schläge nämlich gezielt Schmerzen verursachen
     Der grösste Schmerz
     wird an der Oberfläche der nackten Haut gespürt
     wo sich die Nerven befinden

     Im folgenden geht der Rektor mit der Rute auf und ab
     Die Mutter beginnt leise zu schluchzen
     Der Vater wirkt immer stärker verzweifelt

REKTOR
    Wenn es Zeit wird
    die Rute anzuwenden
    sollte man tief einatmen
    sich entspannen
    und man sollte nicht vergessen zu beten
    HERR LASS DAS EINE WERTVOLLE LEKTION WERDEN
    kurze Pause
    Reissen Sie Ihr Kind nicht herum
    erheben Sie Ihre Stimme nicht
    das Kind muss die Rute an Ihrem ganzen ruhigen
    überlegten und beherrschen Geist kommen sehen
    kurze Pause
    Wenn Sie sich auf das Kind setzen müssen
    um es zu versohlen
    dann zögern Sie nicht
    Und halten Sie es solange in dieser Stelllung
    bis es aufgegeben hat
    kurze Pause
    Aus meiner Erfahrung sind fünf bis zehn Schläge meistens ausreichend
    kräftige Schläge sehr kräftige Schläge
    Manchmal bei älteren Kindern
    wenn die Schläge nicht kräftig genug sind
    ist das Kind noch widerspenstig
    Wenn das der Fall ist
    versohlen Sie einfach weiter
    hören Sie mit der Disziplin nie auf
    bevor das Kind sich  e r g e b e n  hat
    Er reicht dem Vater die Rute
    Ich sehe keine andere Lösung

    Die Mutter fällt ohnmächtig vom Stuhl
    Der Vater wirft vor Ekel die Rute zu Boden
    Er schlägt die Hände vors Gesicht

REKTOR nach einer Pause - sehr kühl
    Ihr Verhalten macht einem Oberlandesgerichtsrat nun wahrlich keine Ehre
    kurze Pause
    Ich muss Sie dringend dazu auffordern
    Ihren Sohn noch heute von meinem Gymnasium abzumelden
    Für eine weitere Bildung halte ich die Volksschule für das höchst Erreichbare
    Vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder
    Er stürzt auf Thomas zu und klopft ihm wie zuvor an die Stirn
    Eindeutig ein Schwachköpfchen - -

VATER aufgelöst
    Ich flehe Sie an
    verehrter Herr Rektor
    gibt es denn keine anderen Möglichkeiten?
    Meine Not wächst ins Unermessliche

REKTOR
    Sie stehlen mir meine kostbare Zeit Herr Richter Reinhardt
    für mich ist hiermit die Unterhaltung beendet

THOMAS lehnt weiter an der Wand - leise, aber sehr eindringlich
    Wie sehr ich Euch alle miteinander hasse
    Nichts wisst Ihr über mich
    gar nichts
    Und glaubt Euch doch so gescheit
    kurze Pause
    Wichtig allein ist Euch
    einen Sündebock für Euer eigenes Versagen zu haben
    Ihr seit alle hinterhältig niederträchtig verlogen und gemein
    ich hasse Euch
    ich brauche Euch nicht

    Das spanische Kruzifix fällt laut zu Boden
    Dunkelheit


Zweites Bild

    Ein Psychiater
    Der Vater
    Die Mutter
    Thomas Reinhardt als Heranwachsender

    Das Wohnzimmer in der Wohnung von Reinhardts
    Eine altmodische Stehlampe mit Lampenschirm ist die einzige Lichtquelle
    In der Mitte der weissen Rückwand befindet sich eine offen stehende Tür
    Links neben der Tür hängt an der Wand ein grosser leerer Bilderrahmen
    Vor dem Bilderrahmen liegt auf dem Boden ein noch dampfender, blutiger
    Hirschkadaver mit auffallend grossem Geweih
    Rechts von der Tür steht an der Wand ein Holzstuhl
    Schräg links auf der Bühne steht ein hoher Stehspiegel
    Rechts vorne ein schwarzes Klavier

    Thomas Reinhardt steht nackt vor dem Stehspiegel
    Er betrachtet und berührt seinen Körper
    Die Mutter sitzt strickend auf dem Stuhl rechts neben der Tür
    Vorne in der Mitte der Bühne gehen der Psychiater und der Vater auf und ab

PSYCHIATER zum Vater
    Die seelische Überreizung Ihres Sohnes hat ihre Ursache
    in seiner vollkommen sexuellen Unaufgeklärtheit
    Indem er plötzlich den aus der Pubertät resultierenden Verschiebungen seiner Physis
    als etwas Rätselhaftem gegenübersteht
    zwingen eben diese ständig vermehrten Verschiebungen seine Psyche
    sich unausgesetzt damit zu beschäftigen
    Diese Überreizung ist meiner Meinung nach bereits derart stark geworden
    dass sie in ihren Äusserungen das Pathologische streift
    wenn nicht gar schon sehr hierin übergreift

    Der Vater schüttelt ungläubig den Kopf
    Die Mutter strickt unbeeindruckt weiter

PSYCHIATER beobachtet Thomas, der weiter vor dem Stehspiegel steht
    Zudem macht mir Ihr Sohn den Eindruck eines schwer hysterischen Menschen
    der in seiner Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert scheint

    Der Vater reicht dem Psychiater wortlos zum Dank seine Hand
    Der Psychiater verlässt durch die Tür die Bühne

    Der Vater setzt sich ans Klavier
    Er spielt leise einen traurigen langsamen Walzer von Frédéric Chopin

VATER zu sich
    Jeder möchte gut schön reich stark sein als Kind
    Nur unser blumenzarter Phantast hält nichts von diesen Tugenden
    nach einer Pause zu seiner Frau - verächtlich
    Wie Dein närrischer Bruder wird auch Dein Sohn in einem Irrenhaus enden

MUTTER
    Mein armer Bruder leidet an fürchterlichem Kopfweh
    an unheilbarer Migräne - -

VATER
    KOPFWEH MIGRÄNE
    DAS ICH NICHT LACHE
    EIN GÄNZLICH VERRÜCKTER IST DEIN BRUDERHERZ
    kurze Pause
    Sein abstossend hässliches Gesicht
    mit den fett verwachsenen weichen Zügen
    und den stechenden boshaften Augen
    ist jedesmal ein unvergleichlich widerwärtiges Schauspiel

MUTTER
    Du bist ungerecht und grausam - -
   
VATER
    Seine Hände muss er in Schlingen tragen
    angebunden ist er am Bett
    wegen der Gefahr des Selbstmords
    kurze Pause
    Paralyse Paranoia Dementia preacox
    IDIOTEN IDIOTEN
    kurze Pause
    Idioten sind das Überflüssigste
    das Selbstverliebteste
    das Entsetzlichste
    was es auf Erden gibt

    Die Mutter hat zu weinen begonnen
    Thomas läuft durch die Tür aus dem Zimmer
    Der Vater spielt wieder ruhig den Walzer

MUTTER unter Tränen
    All die Jahre hast Du nur versucht
    mit guten Ermahnungen auf den Buben einzuwirken
    Ich habe immer das Gefühl gehabt
    dass Du bei Streitigkeiten beiseite tratst
    als wolltest Du dich nicht entscheiden
    Du bist seltsam gewesen

    Thomas taucht in der Tür auf
    Er trägt einen roten Bademantel und eine Spiegelbrille
    Er raucht eine Zigarette

THOMAS
    Noch heute Nacht
    wenn die kleinen runden Vögel zwischen den Ästen heruntergefallen sind
    werde ich dem Elend hier auf ewig Adieu sagen
    Er tritt in das Zimmer ein

VATER haut wütend in die Klaviertasten
    Jetzt packt ihn wieder das Fernweh

THOMAS
    Ich lasse das zurück was Euch am wertvollsten ist
    den noch dampfenden blutverschmierten Hirschkadaver

    Die Mutter rutscht vom Stuhl auf die Knie
    Sie faltet die Hände zum stillen Gebet
    Der Vater wirkt fast erheitert

THOMAS
    Als Schiffsjunge werde ich wirklich Schiffbruch erleiden
    und ich werde die Landung auf einer einsamen Insel erleben
    Es wird ein Ort sein für die Ewigkeit
    die Geburt des Paradieses für Helden Narren und Sünder
    ein Ort grosser Geheimnisse
    wo der rote Mond
    voll und glänzend
    den schwarzen Himmel beherrscht

MUTTER
    Er ist in einem fürchterlichen Zustand - -

VATER
    Er ist endgültig von allen guten Geistern verlassen

    Thomas beginnt mit sich selbst einen stummen Walzer zu tanzen

MUTTER
    Tränen stürzen ihm aus den Augen
    Man müsste etwas Liebes tun
    oder ihm etwas Sanftes ins Ohr sagen

VATER
    Es steht fest
    der abnorme Junge muss so schnell wie möglich aus dem Haus
    bevor tatsächlich noch ein Unglück geschieht

    Die Mutter kriecht auf allen Vieren zu dem weiter tanzenden Thomas
    Sie umklammert seine Beine
    Thomas stürzt zu Boden

MUTTER verzweifelt, fast hysterisch
    Mein einziges Kind
    bleib bei Verstand
    ich bin es doch nur
    deine dich ewig liebende Mutter
    Sie küsst die Wangen von Thomas
    Mein Schlaf gestern Nacht ist voll seltsamer Unruhe gewesen
    schemenhafte Geschöpfe kamen und gingen
    Als ich im Morgendämmern aufwachte
    griff ich mir an den Kopf
    wie wenn ich eine lange bange Fahrt gemacht hätte durch Gegenden
    aus denen noch kein Mensch gesund zurückkehrte

    Thomas stösst die weinende Mutter von sich
    Er erhebt sich langsam

THOMAS
    So wird es im Jenseits sein
    In der Heide die Fähren und jener sanfte Sand
    ein Himmel wie gemalt
    das Wolkenwandern
    weiss
    selig
    reisst sich von dieser Erde auf

VATER mit blankem Entsetzen - zu sich
    Jetzt hilft nur noch ein Sanatorium
    danach vielleicht das strengste Internat im Land
    Er stürzt auf Thomas zu, packt ihn an den Schultern - ausser sich
    Im rechten Flügel von Schloss Nymphenburg
    gibt es eine Ausstellung Mensch und Natur
    da hängen an den Wänden Bilder von Eisbären und Pinguinen
    WARUM ZIEHT ES DICH DA NICHT HIN?
    Er reisst Thomas zu Boden
    Er verlässt wutentbrannt und hilflos wirkend durch die Tür das Zimmer

    Die Mutter bekommt einen hysterischen Lachanfall
    Thomas erhebt sich vom Boden und geht ruhig zum Stehspiegel
    Er streicht sein Haar glatt und zündet sich eine neue Zigarette an

MUTTER weiter unter hysterischem Lachen
    So stirbt der Sohn dem Vater
    und der Vater dem Sohn
    Keiner von beiden bedauert aufrichtig den Verlust

THOMAS betrachtet sich weiter im Spiegel - zu sich, aber eindringlich
    Der Grosse Fuchs lässt seine Flügel am Boden hängen
    Nirgends ein Atlasschimmel soweit das Auge reicht
    Ja Mutti
    jetzt ist alles zu spät
    kurze Pause
    THE BIG SUR

    Dunkelheit


Drittes Bild

    Ein Klassenkamerad
    Thomas als Heranwachsender
    Der Vater
    Die Mutter
    Thomas als Mittzwanziger

    Eine Waldlichtung, eingehüllt von leichten Nebelschwaden
    An der grauen Rückwand hängt eine grossformatige, kitschig gemalte
    Gebirgslandschaft
    Schräg links vorne eine Reihe von drei verdorrten Gebirgsbäumen
    Rechts vorne ein Marterl mit folgender Aufschrift
    ICH LIEBE EUCH ALLE - BIS AUF WENIGE
   
    Thomas Reinhardt als Heranwachsender und der Klassenkamerad sitzen
    angelehnt an den Bäumen auf dem Boden
    Auf den Kopf tragen sie Schülermützen
    Vor Thomas auf dem Boden liegt eine Ledertasche und ein von einem
    Ledergurt zusammengehaltenes Bündel Bücher, das verschiedene Schriften
    Nietzsches enthält
    Thomas gibt Zigaretten aus
    Ruhige Stimmung

KLASSENKAMERAD
    Wir hätten auch ausbüchsen können

THOMAS
    Red' keinen Blödsinn
    Man hätte uns nachträglich als Feiglinge bezeichnet

KLASSENKAMERAD
    Wir sind keine Feiglinge
    der Feigling ist etwas anderes
    das ist einer von dieser Welt
    Pause
    In der Nacht hat vor meinem Schlafzimmerfenster
    die Liebessaison der Katzen begonnen
    Ich habe kein Auge zugemacht
    jetzt plagen mich ganz scheussliche Kopfschmerzen

THOMAS
    Wenn Du Geburtstag hast
    regnet es garantiert

KLASSENKAMERAD
    Bad vibrations

    Stille

THOMAS
    Wir sind zwei trübe Unglücksraben
    die die sinnlosen und idiotischen Internatsjahre
    mit der Apathie eines abgetriebenen Packesels
    über sich ergehen liessen
    kurze Pause
    Nichts ist so unerträglich für den Menschen
    wie Langeweile
    weil der Mensch dann sein Nichts fühlt
    seine Ungesichertheit
    seine Abhängigkeit
    seine Leere
    kurze Pause
    Mit der Langeweile
    steigt aus dem Grund der Menschenseele
    das gelangweilte Arschloch auf
    die Schwärze
    die Traurigkeit
    die Verzweiflung

KLASSENKAMERAD
    Es liegt in unserer Macht
    uns zu töten
    aber es liegt nicht in unserer Macht
    unsere  Ü b e r f l ü s s i g k e i t  zu vernichten
    Dieses Wissen ist niederschmetternd

    Stille

THOMAS
    Mein Vater und meine Mutter
    glauben nicht an eine Weiterexistenz nach dem Tod
    Was mit dem toten Leib geschieht ist ihnen gleich
    kurze Pause
    Mein Begräbnis wird billigste Sorte sein
    kein Priester niemand verständigt
    nur ein paar Verwandte werden Blumen und Diesteln ins Grab werfen
    kurze Pause
    Am Rangierbahnhof hat man zuvor meinen Sarg
    in einen Wagon des Güterzugs Berchtesgaden-München gehoben
    Fracht nicht Eilgut
    niemand ist mitgefahren
   
KLASSENKAMERAD
    Während der ersten Monate des Zweiten Weltkriegs
    sollen sich erwachsene Deutsche vor den Zug geworfen haben
    weil sie nicht an die Front durften

THOMAS
    Eine dümmere Bourgoisie als die deutsche ist nicht denkbar
    Sie hat zwei Kriege geführt
    und nichts dabei für sich gewonnen

KLASSENKAMERAD nach einer Pause
    Glaubst Du an Gott
    Thomas?

THOMAS
    Alle guten Menschen glauben an einen Gott
    wie verschieden sie ihn auch nennen

    Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin stehen beide gleichzeitig auf
    Thomas holt aus seiner Jackentasche zwei rote Schleifen, die sich die
    beiden Jungen gegenseitig auf die linke Seite ihrer Jacken befestigen
    Dann holt Thomas aus seiner Ledertasche zwei Pistolen
    Eine davon gibt er seinem Klassenkameraden
    Die Pistolen in der Hand, stellen sich die beiden Jungen in der Mitte der
    Waldlichtung Rücken an Rücken
    Sie gehen jeder etwa zehn Schritte in entgegengesetzte Richtungen
    Dann drehen sie sich um
    Thomas und der Klassenkamerad stehen sich nun von Angesicht zu
    Angesicht gegenüber
    Sie zielen mit den Pistolen auf den Gegenüber

THOMAS
    Wir werden zugleich schiessen
    so ist es ausgemacht
    Hat keiner getroffen
    wird es einen zweiten
    einen dritten Schusswechsel geben
    bis alles zu Ende ist
    kurze Pause
    LOS

    Mehrere Schüsse fallen gleichzeitig
    Das Echo der Berge verstärkt den Schusslärm
    Der Klassenkamerad stürzt getroffen zu Boden
    Thomas ist unverletzt
    Er lässt seine Pistole zu Boden fallen und eilt zu dem Klassenkameraden
    Der Klassenkamerad hält die Hände vor seiner blutenden Brust

KLASSENKAMERAD hat starke Schmerzen - gepresst
    Schiess noch einmal Thomas
    Wir sind keine Feiglinge
    der Feigling ist etwas anderes
    das ist  e i n e r  von dieser Welt

    Thomas nimmt die Pistole des Klassenkameraden
    Er schiesst ihm in den Kopf
    Dann richtet er die Waffe auf sich selbst und schiesst sich zweimal rasch
    hintereinander in die eigene Brust
    Er stürzt zu Boden
    Dunkelheit

    Ein Scheinwerferlicht erfasst links vorne die Mutter
    Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und sichtlich gealtert
    Sie schiebt einen Rollstuhl in die Mitte der Bühne
    In dem Rollstuhl sitzt der Vater
    Der Scheinwerfer folgt den beiden
    Auf der Bühne weiterhin Dunkelheit

VATER direkt zum Publikum - neutral
    Thomas hat zwei Schüsse auf sich selbst abgefeuert
    Ein Schuss ist in die Lunge gedrungen
    der andere hat das Herz gestreift
    Viele Stunden hing sein Leben an einem seidenen Faden
    Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre
    hätte er tot sein müssen
    sagten die Ärzte

MUTTER auch direkt zum Publikum
    Die Hintergründe des Zwischenfalls sind weiterhin unbekannt
    Vielleicht wollte Thomas nur ein Abenteuer erleben
    aufbrechen in ein anderes Land
    Monotone Wolken zogen durch seinen Kopf
    er hatte sich im Internat schrecklich gelangweilt
    er hatte ein Kribbeln in den Beinen

VATER
    Gestern abend erhielten wir ein Telegramm
    der Psychiatrischen Universitätsklink Frankfurt am Main
    Darin stand zu lesen
    dass Thomas heute im Lauf des Tages
    nach sieben Jahren Inhaftierung
    aus ebendieser Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke entlassen wird
    Es soll der Versuch sein
    Thomas dem sozialen Leben wiederzugeben
    und vielleicht doch noch zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu machen
    kurze Pause
    Ich habe das Telegramm  in den Papierkorb geworfen

    Die Mutter schiebt den Rollstuhl nach rechts von der Bühne
    Der Scheinwerfer folgt ihr
    Thomas Reinhardt als Mittzwanziger betritt rechts vorne die Bühne
    Er trägt einen schwarzen Anzug mit Krawatte und hat einen kleinen
    Koffer in der Hand
    Schweigsam begegnen sich die Mutter, der Vater und Thomas
    Die Mutter und der Vater ab
    Thomas geht in die Mitte der Bühne
    Der Scheinwerfer folgt ihm

THOMAS direkt zum Publikum - optimistisch
    Der Herbst kommt durch die Luft
    bleibt etwas in den Bäumen hängen
    ENDLICH ZUGFAHRT NACH MÜNCHEN
    Am Fenster fliegen Baumgruppen in der Herbstsonne vorbei
    dunkle zusammenhängende Schatten hingetuscht
    darüber und weitergreifend hellere Schatten wie lasiert
    Das Ganze ist unregelmässig gefleckt
    wie man einen Pinsel auf einem Papier ausdrückt
    Er zündet sich eine Zigarette an
    LEBEN LEBEN
    nichts anderes mehr wollen als schöne Erlebnisse
    So eingestellt
    erfindet man ganz sicherlich einen Roman
    kurze Pause
    Aber zuvor muss ich mich verlieben
    Wenn es gar nicht anders geht
    in mich

    Thomas tritt aus dem Scheinwerferlicht
    Er verlässt nach links schnell gehend im Dunkeln die Bühne

    Von oben herab senkt sich in das Scheinwerferlicht eine alte schwarze
    Schreibmaschine mit weisser Tastatur
    Musik erklingt
    Mozart, Arie des Cherubino - Voi che sapete (Le Nozze di Figaro)
    Musik aus
    Scheinwerferlicht aus
    Dunkelheit


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"VIELE KLEINE TODE (AB BILD 4)"
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RECHTS AM RAND